Dienstag, 28. Juni 2011

HOTEL

Kürzlich lernten wir, dass es völlig normal ist, wenn Starkstromleitungen auf Autobahnen fallen und ihre Masten wie Männer vor der grossen weissen Frau einknicken. Im Frühling wird dann das Emsland voll laufen und Besucher sollten sich Schlauchboote auf die Autos binden. Ob nun Bote der Klimaerwärmung oder nur ein stationäres Tief mit kreisenden Schneewolken, die Liebste und das Radio redeten von einer Katastrophe, ich änderte die Route und fuhr dann halt auf Landstrassen in den Schneesturm. Kurz vor der Wiederauffahrt auf die Autobahn hielt ich gekuschelt an eine Schneewehe und hörte den ersten detaillierten Bericht aus der Gegend um Osnabrück. Keine Chance auf den letzten sechzig Kilometern zu ihr und ich kehrte um zum Landhotel, das ich an der letzten Kreuzung einsam stehen gesehen hatte.

Leer und dunkel lag die Vertreterabsteige, mässig angetan über einen Gast waren die Wirtsleute, die gerade schliessen wollten, kalt und bemerkenswert ungemütlich das Zimmer, welches ich mir selbst in dunklen Gängen zu suchen hatte. Nachdem die Liebste und ich uns über die Scheeberge, die zwischen uns lagen, hinweg getröstet hatten, kroch ich ins Bett und tat mir Freitagabendfernsehen an. Das passte zu den mit Schnee verklebten Fenstern, deren hässliche Gardinen man hätte abfackeln müssen. Eine Gruppe Halbwüchsiger redete darüber, dass sie, obwohl minderjährig, schon einige Dinger gedreht hatten, zum Beispiel dem Papi das Auto gemopst. Ach Gott, ja. Den Fernseher müsste man auch anzünden, es würde warm und gäbe eine schöne Röhrenimplosion. Aber interessant sahen sie aus. Einer wie ein Sohn von Robert Smith und Boy George. Fette, pechschwarze Gelsträhnen hingen vor der riesigen Sonnenbrille herab, die ein hübsches Knabengesicht verbarg. Mich erheiterte seine sehr aufgesetzt tuntige Art zu rauchen und zu reden. Das hatte ich in dem Alter nicht anders gemacht, so kam man in der Provinz in die wirklich verruchten Clubs und Bars. Beim Zappen sah ich noch Herrn Lindenberg (beziehungsweise seinen Hut und die Sonnenbrille) etwas absondern und dachte über die Zukunft der Knaben nach, die ich im Beitrag als die Band „Tokio Hotel“ kennen gelernt hatte. Ich träumte von brennendem Schnee der zu grauen Gardinenlappen schmolz und Fernseher entzündete im Hotel in Borgholzhausen und versuchte früh am nächsten Morgen weiter in die Arme der Liebsten zu kommen.

Es gelang in Stunden, bis zum Sonntagabend hatte ich ihr von den Dingen zu berichten, die ich auf meiner Odyssee erlebt hatte. Von hunderten genickten Bäumen, Masten, eingeschneiten Autos in den Gräben, von Elchen und Eisbären erzählte ich ihr in der warmen Wohnung.

Trotzdem fuhren wir nach Osnabrück um an einer Vernissage im Remarque Hotel teilzunehmen. Eine der Künstlerinnen sollte durch unsere Anwesenheit erfreut werden. Die Runde durchplauderte die persönlichen Schwierigkeiten zu kommen und zu gehen, die Hotelvertreterin verwies lachend auf die Notbetten, die noch immer aufgestellt waren. Die Galeristin selbst führte in einer Rede durch die Werke, es war von konsequent aintellektuellem Zugang, Meisterschaft in der Reduktion, die eine Meisterschaft der Konzentration erfordere und vom geschwulstartigen Fressen der Farbe durch den Untergrund, der Rost war, die Rede. Mir gefiel das alles nicht, denn eindeutig und auf Nachfrage bestätigt, waren das die Worte der Künstler selbst und das hasse ich wie die Post. In die Selbstdarstellungen hinein kam Unruhe von oben. Eine Gruppe Jungen schickte sich an die Wendeltreppe herabzukommen, unter der die Vernissagebesucher lauschten. Einige sassen auf ihr und zuerst ging ein erwachsener Mann energisch durch sie hindurch, blieb in mitten der Veranstaltung stehen und drehte sich zur Treppe. Sein Blick forderte, die Knaben mögen sich doch bitte auf dem von ihm geschlagenen Weg beeilen. Sie kamen wirklich auffallend langsam die Treppe herab. Eine Klassenreise? Ins Steigenbergerhotel? Vielleicht störten ihre Sonnenbrillen auf der tückischen Treppe, wobei es mehr den Eindruck machte, als warteten sie auf etwas. Etwas, das von uns, der Gruppe aus dreissig Leuten zu ihren Füssen kommen sollte. Einer von denen tänzelte beim Herabbummeln. Der Arm mit der Zigarette schwang langsam und betont bei jedem Schritt. Diese Kinderdiva kannte ich, die schwarzen Strähnen, die Riesenbrille, das ganze, schwarze, unsymmetrische Outfit. Das waren die von gestern Abend aus dem kalten Hotel. Tokio Hotel ging völlig unbeachtet quer durch die Veranstaltung. Das Publikum liess sich nicht stören und lauschte aufmerksam den schlauen Worten über Schichten, Spektren und Blickpunkte von Künstlern.

Nach der Rede standen wir mit unserer Freundin vor ihren Arbeiten und sahen, wie der Rost auf dem sie malte, tatsächlich das Bild zu sprengen schien. Das war wirklich aufregend. Ein paar Leute hatten die Band doch erkannt, aber Thema blieb zum Ende nur eins: Wie komme ich in diesem Chaos heim? Notbetten waren noch da.

Herr Ü.

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