André Debus | Selbstportrait im Pelzrock | Öl auf Multiplex | 67 x 49 cm | 2012 |
Samstag, 10. August 2013
Untaten der Malerei.
Große Ereignisse werfen im September ihre langen Schatten auf Nürnberg voraus. Nürnberg ist auf dem Weg zur Kulturstadt: Untaten der Malerei.
Donnerstag, 11. April 2013
Moral und Bildraum
In vielen Bildern des Malers Juha Sääski schleicht sich die mediale Welt bedrohlich in Wohn- und Kinderzimmer. Eine Mutter öffnet die Tür um ihre Tochter zum Essen zu rufen. Doch hinter der Tür verbirgt sich eine andere Welt. Farbige Rechtecke, stürzende Raumlinien und aggressive Wesen kämpfen um die Vorherrschaft. Noch hängt an der Wand das Stickbild eines Engels, welcher auf einer Waldlichtung segnend seine Hände über einen Bub und ein Mädchen hält. Wer kontrolliert hier wen? Eltern ihre Kinder? Oder werden unsere Kinder von den Medien kontrolliert? Kontrollieren nicht schon längst die Medien uns alle?
Uniformierte Männer sitzen vor einer Wand mit Überwachungsmonitoren. Die Hände ruhen auf den Kontrollgeräten obwohl die Situation bereits zu eskalieren droht. Polizisten marschieren gegen Demonstranten. Jesus hängt am Kreuz und blutet. Kleinkinder schreien. Homer Simpson isst einen Burger. Schon reißt die Übertragung ab. Rauch dringt aus den Bildschirmen in den Kontrollraum. Der Feuerlöscher hängt weit hinten. Unbemerkt von den Uniformierten hat sich eine mannsgroße Spinne angeschlichen. Wer kontrolliert hier wen? Die Obrigkeit die Öffentlichkeit? Beamte die Situation? Oder ist alles außer Kontrolle geraten?
Es gibt neben Ölbildern und großformatigen Kohlezeichnungen zahlreiche Collagen von Juha Sääski, auf denen er sich den Ausgestoßenen der Gesellschaft widmet. Und denen, die nie wirklich in der Gesellschaft angekommen sind. Und doch ist er nicht einfach ein Moralprophet mit erhobenem Zeigefinger. Seine Kunst greift viel tiefer. In magrittescher Manier verwandelt er Bildräume in Bilderrätsel. Und wie bei Magritte sind diese Rätsel lösbar. Hinsehen und nachdenken lohnt! Da ist dieser Mann, der sein Gesicht über eine Strumpfmaske zieht, die er über sein Gesicht gezogen hat. Oder der Maler, der selbst nur aus wilden Pinselstrichen besteht und vor einer illusionistischen Leinwand in einem illusionistischen Raum steht. Auch gibt es da ein anatomisches Skelett, welches mit der linken Hand einen dicken Akt in der Manier eines Fernando Botero malt und mit der rechten Hand schmale Figuren im Stile der Bronzegüsse Alberto Giacomettis.
Wiederum sind Juha Sääskis Bilder nicht einfach Rebusse. Tatsächlich geht es um Grundsätzliches. Es geht um unsere Fähigkeit des Sehens und Wahrnehmens. Sehen wir erst einmal die Details seiner Bilder sind wir berührt, wir fangen an zu denken, wir nehmen sie wahr. Können uns auch die visuellen Reize der Wirklichkeit berühren und zum Denken und Handeln anregen? Sehen wir die Dinge hinter dem Sichtbaren?
Juha Sääski behandelt in zeitgemäßer Form die großen Themen der europäischen Kunstgeschichte. Er spricht über die moralische Dimension des Menschen ohne moralinsauer zu sein. Er spricht auch über Fiktion und Realität. Er bricht den Bildraum auf und stellt ihn uns in seiner illusionistischen Absurdität nackt vor Augen nachdem er uns erst hineingezogen hat. Dazu kommt die meisterliche technische Beherrschung der von ihm verwendeten Medien, die erfreulicherweise ganz uneitel daherkommt.
Juha Sääski ist in dieser glücklichen Einheit von Form und Inhalt unbestreitbar den großen lebenden europäischen Malern zuzurechnen. Seine Bilder sind nicht nur ein treffendes Abbild unserer gegenwärtigen Gesellschaft, sie sind in ihrer Thematik zeitlos. Seine Bildeinfälle sind eine Bereicherung unseres visuellen Wortschatzes. Sie sind Teil einer lebendigen europäischen Kultur. Juha Sääskis Bilder sind zu Form und Farbe gewordene Moral im Bildraum. Danke dafür.
André Debus
Juha Sääski wird am 26. April eine Einzelausstellung in der Galerie Toolbox in Berlin eröffnen. Dieser Text erscheint (+ Übersetzung in Englisch von Anne Brede) als Vorwort zu dem Katalog, der zur Ausstellung gedruckt wurde. Mehr Arbeiten von Juha Sääski findet man hier.
Daisy! Food is ready! | oil on canvas | 167 x 197 cm | 2011 |
Uniformierte Männer sitzen vor einer Wand mit Überwachungsmonitoren. Die Hände ruhen auf den Kontrollgeräten obwohl die Situation bereits zu eskalieren droht. Polizisten marschieren gegen Demonstranten. Jesus hängt am Kreuz und blutet. Kleinkinder schreien. Homer Simpson isst einen Burger. Schon reißt die Übertragung ab. Rauch dringt aus den Bildschirmen in den Kontrollraum. Der Feuerlöscher hängt weit hinten. Unbemerkt von den Uniformierten hat sich eine mannsgroße Spinne angeschlichen. Wer kontrolliert hier wen? Die Obrigkeit die Öffentlichkeit? Beamte die Situation? Oder ist alles außer Kontrolle geraten?
Monitoring the realities. | oil on canvas | 160 x 210 cm | 2012 |
Es gibt neben Ölbildern und großformatigen Kohlezeichnungen zahlreiche Collagen von Juha Sääski, auf denen er sich den Ausgestoßenen der Gesellschaft widmet. Und denen, die nie wirklich in der Gesellschaft angekommen sind. Und doch ist er nicht einfach ein Moralprophet mit erhobenem Zeigefinger. Seine Kunst greift viel tiefer. In magrittescher Manier verwandelt er Bildräume in Bilderrätsel. Und wie bei Magritte sind diese Rätsel lösbar. Hinsehen und nachdenken lohnt! Da ist dieser Mann, der sein Gesicht über eine Strumpfmaske zieht, die er über sein Gesicht gezogen hat. Oder der Maler, der selbst nur aus wilden Pinselstrichen besteht und vor einer illusionistischen Leinwand in einem illusionistischen Raum steht. Auch gibt es da ein anatomisches Skelett, welches mit der linken Hand einen dicken Akt in der Manier eines Fernando Botero malt und mit der rechten Hand schmale Figuren im Stile der Bronzegüsse Alberto Giacomettis.
Self-portrait 2 (artist's dilemma) | oil on canvas | 150 x 180 cm | 2007 |
Wiederum sind Juha Sääskis Bilder nicht einfach Rebusse. Tatsächlich geht es um Grundsätzliches. Es geht um unsere Fähigkeit des Sehens und Wahrnehmens. Sehen wir erst einmal die Details seiner Bilder sind wir berührt, wir fangen an zu denken, wir nehmen sie wahr. Können uns auch die visuellen Reize der Wirklichkeit berühren und zum Denken und Handeln anregen? Sehen wir die Dinge hinter dem Sichtbaren?
Juha Sääski behandelt in zeitgemäßer Form die großen Themen der europäischen Kunstgeschichte. Er spricht über die moralische Dimension des Menschen ohne moralinsauer zu sein. Er spricht auch über Fiktion und Realität. Er bricht den Bildraum auf und stellt ihn uns in seiner illusionistischen Absurdität nackt vor Augen nachdem er uns erst hineingezogen hat. Dazu kommt die meisterliche technische Beherrschung der von ihm verwendeten Medien, die erfreulicherweise ganz uneitel daherkommt.
Juha Sääski ist in dieser glücklichen Einheit von Form und Inhalt unbestreitbar den großen lebenden europäischen Malern zuzurechnen. Seine Bilder sind nicht nur ein treffendes Abbild unserer gegenwärtigen Gesellschaft, sie sind in ihrer Thematik zeitlos. Seine Bildeinfälle sind eine Bereicherung unseres visuellen Wortschatzes. Sie sind Teil einer lebendigen europäischen Kultur. Juha Sääskis Bilder sind zu Form und Farbe gewordene Moral im Bildraum. Danke dafür.
André Debus
Juha Sääski wird am 26. April eine Einzelausstellung in der Galerie Toolbox in Berlin eröffnen. Dieser Text erscheint (+ Übersetzung in Englisch von Anne Brede) als Vorwort zu dem Katalog, der zur Ausstellung gedruckt wurde. Mehr Arbeiten von Juha Sääski findet man hier.
Sonntag, 23. September 2012
Manifesta
So eigenwillig eine Ausstellung auch sein mag – an einer Bedingung kommt keine vorbei: Ortsspezifisch muss es sein. Diesen bisweilen großzügig ausgelegten Anspruch erfüllt die 9. Manifesta so präzise wie umfassend.
Eine Bodenarbeit aus Robert Smithson's Serie der Non-Sites ist Teil und Sinnbild der traditionell lokal ausgerichteten Wanderausstellung, die diesmal von der vom Steinkohlebergbau geprägten Region im belgischen Limburg ihren Ausgangspunkt nimmt.
In den Non-Sites fasste Smithson die Beziehung zwischen ausstellendem Rahmen und ausgestelltem Gegenstand zusammen: Site ist der Ort im Außenraum, in den der Künstler eingreift; Non-Site ist die Form, die dieser Ort im Kontext seiner Repräsentation annimmt. Folglich arrangierte Smithson Rohmaterial - im vorliegenden Fall Steinkohle - in industriell gefertigten Metallboxen, wodurch amorphe und kristalline Strukturen sich zu natürlich synthetischen Skulpturen verbinden, und der sperrige Rohstoff unter institutionellen Bedingungen dargeboten wird.
Die Transformation von Natur im kulturellen Umfeld beschäftigt auch Smithsons Land Art-Kollegen wie Richard Long, dessen charakteristisches Geröllfeld hier ebenfalls aus Kohle besteht.
Dem Beitrag der Kohleindustrie bei der Erzeugung und Zerstörung von Kultur und Natur nähert sich die Biennale im 1924 errichteten Hauptgebäude einer ehemaligen Mine aus drei Perspektiven. Neben 39 zeitgenössischen Arbeiten aus bildender Kunst, Film und Performance zeichnet eine kunsthistorische Sektion die Entwicklung des Kohlebergbaus als Gegenstand der Grafik und Malerei seit der Romantik nach, während die dritte Abteilung die soziokulturelle Entwicklung der Bergarbeiter-Region dokumentiert.
Der sich so ergebende rhythmische Wechsel von Bildfasten und Augenschmaus entzerrt den potentiellen Informations-Overkill, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art déco-Baus sowohl kleingedruckten als auch monumentalen Exponaten ihre Schutzzonen und Hoheitsgebiete zugestehen.
Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche der in den 50er und 60er Jahren angeworbenen 'Gastarbeiter' ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie. Während Magdalena Jitrik die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands in einer multimedialen Installation beschreibt, beschränkt sich der Kommentar der Gruppe Claire Fontaine zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst 'das Haus der energetischen Kultur' im bei Chernobyl gelegenen Pripyat zierte.
Beim Publikum führt eine diffuse Ahnung der Einbindung in von unbekannter Seite gesteuerte Abläufe zur Identifikation mit Ante Timmermans, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt und locht, wobei er einen Konfettihügel produziert. Angesichts der vom Fenster aus sichtbaren Abraumhalden ließe sich der langsam wachsende Kegel als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll. Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung.
Eine solch ästhetische Erfahrung unbewussten Handelns ermöglicht auch Nemanja Cvijanovićs Ermunterung zur Betätigung einer unprätentiösen Spieluhr, woraufhin leise Die Internationale erklingt. Erst später und damit zu spät, wird das jeweilige Opfer – vielmehr Täter – feststellen, dass die arglose Einwilligung zum Gehorsam gegenüber einem undurchschaubaren System dazu führt, dass Verstärker im Außenbereich die Botschaft verlautbaren. Durchschnittlich drei Personen pro Minute werden auf diese Weise zu unwissenden Rädchen im Getriebe, die die Völker auf der Terrasse zum Hören der Signale nötigen. Sie wird der redundante Pep-Talk weniger zum letzten Gefecht inspirieren, als vielmehr dazu, über die räumlich und zeitlich entfernten Konsequenzen des eigenen Tuns früher nachzudenken als es während der Industrialisierung nebst ihrer Spätfolgen geschah.
Charlotte Lindenberg
Eine Bodenarbeit aus Robert Smithson's Serie der Non-Sites ist Teil und Sinnbild der traditionell lokal ausgerichteten Wanderausstellung, die diesmal von der vom Steinkohlebergbau geprägten Region im belgischen Limburg ihren Ausgangspunkt nimmt.
Durán | Miner's heads | 2012 |
Gronbach | was ver-, be-, entsteht | 2012 |
Vautequenne | Waterschei mine | 1927 |
Der sich so ergebende rhythmische Wechsel von Bildfasten und Augenschmaus entzerrt den potentiellen Informations-Overkill, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art déco-Baus sowohl kleingedruckten als auch monumentalen Exponaten ihre Schutzzonen und Hoheitsgebiete zugestehen.
Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche der in den 50er und 60er Jahren angeworbenen 'Gastarbeiter' ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie. Während Magdalena Jitrik die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands in einer multimedialen Installation beschreibt, beschränkt sich der Kommentar der Gruppe Claire Fontaine zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst 'das Haus der energetischen Kultur' im bei Chernobyl gelegenen Pripyat zierte.
Magdalena Jitrik | Revolutionary Life | 2011 - 2012 |
Beim Publikum führt eine diffuse Ahnung der Einbindung in von unbekannter Seite gesteuerte Abläufe zur Identifikation mit Ante Timmermans, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt und locht, wobei er einen Konfettihügel produziert. Angesichts der vom Fenster aus sichtbaren Abraumhalden ließe sich der langsam wachsende Kegel als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll. Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung.
Ni Haifeng | Para-Production | 2008 - 2012 |
Charlotte Lindenberg
Montag, 17. September 2012
Was is daran politisch? Die dOCUMENTA (13) und die politische Kunst
Zum Geleit
Der folgende Text eignet sich besonders für diejenigen, die die Ausstellung gesehen haben, da einzelne Arbeiten nicht beschrieben, sondern nur erwähnt werden.
Politische Kunst: Unvereinbar oder unzertrennlich?
Lang galt die Kombination 'politische Kunst' als Oxymoron seitens der VertreterInnen künstlerischer Autonomie, die vor Instrumentalisierung der per se freien Kunst warnten. Entsprechend Ad Reinhardts Postulat, Kunst sei Kunst und alles Andere alles Andere, sei Kunst nichts und niemand zu Diensten. Doch mit der Erkenntnis kollektiver Ursachen und Wirkungen individuellen Handelns, wie unabhängig es sich auch wähnt, wurde das Oxymoron zur Tautologie: Produziert und rezipiert unter gesellschaftlichen Bedingungen, gilt Kunst als grundsätzlich politisch. Wie aber löst die dOCUMENTA (13) ihren dezidiert politischen Anspruch ein?
Das duale Prinzip
Ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Allgegenwart von 'collapse and recovery' – zwei Wörter, die sich mit unterschiedlichen Begriffen übersetzen lassen: Zusammenbruch und Zerstörung, bzw. Wiederaufbau und Heilung.
Die Schwierigkeit, zu erkennen, ob der Ist-Zustand, von dem die KünstlerInnen ausgehen, sich dem Zusammenbruch oder der Zerstörung von Gebäuden, Biografien oder Gesellschaften verdankt, verweist auf die folgenschwere Beziehung zwischen Implosion und Explosion: Wie schwach muss ein Organismus sein, um Aggressoren zu ermutigen? Oder umgekehrt: Wie viel äußere Einwirkung ist notwendig, bis Systeme oder Individuen in sich zusammenfallen? In den meisten Fällen der auf der dOCUMENTA (13) thematisierten Krisenherde fällt die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer schwer. Daher verdeutlichen viele Arbeiten die gleichzeitige Eskalation von veralteten Strukturen und den von ihnen provozierten Attacken. Zerstörung und Zusammenbruch folgen einander unauflösbar wie ein Möbiusband.
Die Wahl zwischen Wiederaufbau und Heilung hingegen ist leichter, da Wiederaufbau die Rekonstruktion eines früheren Zustands impliziert. Eine solche Wiederherstellung des Verlorenen aber ist selten das Anliegen. Statt restitutiver Hoffnungen überwiegen visionäre. Das Vorher fungiert allenfalls als Lehre.
Anders als die Rückkehr zum status quo impliziert die Vorstellung von Heilung eine ergebnisoffene Veränderung – sei es auf kollektiver oder individueller Ebene.
Jenseits der Twenty-Somethings
Einzelne Aspekte der Ausstellung haben appellativen Charakter, wie beispielsweise die Anhebung des Altersdurchschnitts von TeilnehmerInnen und Exponaten. So lässt sich der Auftritt von zwei 1925 geborenen Künstlerinnen und einem ein Jahr jüngeren Kollegen als Affront gegen die im Kunstbetrieb herrschende Altershierarchie verstehen, derzufolge vor 1970 Geborene für den Markt nur dann interessant sind, wenn sie sich anhaltenden Erfolgs erfreuen.
Synchronizität der Ereignisse: Abgelegene Modernen
Neben dem Alter der TeilnehmerInnen steigt auch das der Werke. Nachdem die Begeisterung für Gegenwartskunst in den neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, avancierte die als überholt geltende Moderne zum Referenzpunkt aktueller Kunstproduktion. 2007 veranlasste die erstaunliche Menge frisch erfundener Räder Buergel und Noack zu der Überlegung, ob die Moderne vielleicht 'unsere Antike' sei – eine Art Lummerland, wo das Schönegutewahre haust.
Die dOCUMENTA (13) setzt diese Revision von Formen und Inhalten der Moderne fort, indem sie moderne KünstlerInnen jenseits der üblichen Verdächtigen in Erinnerung ruft.
So übertragen Hannah Ryggens Webereien die internationale Politik der 1930er Jahre in ein Amalgam der in Europa präsenten Formsprachen. Emily Carrs und Margaret Prestons Gemälde hingegen verbinden Prinzipien der Klassischen Moderne mit denen der Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, bzw. der australischen Aborigines.
Die Vermessung der Kunstwelt
Mit der Öffnung des Zeitfensters erweitert sich auch der geografische Rahmen. Die Integration des Geschehens außerhalb von Europa und den USA ist auf Biennalen, und seit der zehnten auch auf der documenta selbstverständlich. Doch angesichts der noch immer von nationalen Interessen bestimmten Ankaufspolitik der Museen und Sammlungen kommt der Aufmerksamkeit für die Kunstgeschichte abseits traditioneller Zentren Signalcharakter zu.
Grenzwertig
Neben diesen Bemühungen um die raumzeitliche Erweiterung des Kunstbegriffs schließt die Ausstellung allerlei 'everything else' ein, angesichts dessen sich die Frage stellt, was daran Kunst sei. Ein Grund für solche Interaktionen ist die Überlegung, dass die Kooperation mit sozialen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Metiers die gesellschaftspolitische Reichweite von Kunst erhöht.
Tarnanstriche
Ohne künstlerische Absicht entstandene Exponate fungieren als ästhetische Lockvögel, die die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen, nicht-ästhetischen Gegenstand lenken.
Infolge eines Kommentars zum Attentat auf Hitler 1939 („Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden" 1) wird Korbinian Aigner zur Zwangsarbeit in Dachau verurteilt, wo er vier neue Apfelsorten züchtet und sie KZ 1 bis 4 nennt. Der Grund für Aigners Anwesenheit auf der documenta sind demnach nicht die mit wissenschaftlicher Präzision gemalten Äpfel als vielmehr die Geschichte vom inhaftierten Dissidenten, der im Wissen um den morgigen Weltuntergang Apfelbäumchen pflanzt und so die tätige Umsetzung des Prinzips Hoffnung verkörpert.
Auch die Anwesenheit von Mark Lombardis minutiösen Geweben verdankt sich nicht ihrer grafischen Attraktivität. Ihr dekoratives Äußeres diente der Offenlegung geheimer Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, deren Nebenprodukt die visuell ansprechenden Diagramme darstellen. Dass die künstlerische Leiterin deren ästhetischem Reiz erlegen ist, zeigt die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Personen, Firmen und Institutionen durch elegant geschwungene Linien markiert, die Art dieser Kontakte aber undefiniert ist.
Anders als im Fall von Aigner und Lombardi, wo Formen allein dem Transport von Inhalten dienen, sind bei Goshka Macuga beide Komponenten gleichermaßen ausdrucksstark. Unterhalb der Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul haben sich Angehörige des afghanischen und internationalen Kulturbetriebs eingefunden. Die Situation ist von surrealen Versatzstücken unterbrochen, wodurch die Form der Arbeit auf zweierlei Weise irritiert: Optisch ist das vermeintliche Foto eine Foto-Montage, und materiell ein Gewebe. Auch inhaltlich erweist sich die sich dokumentarisch gerierende Aufnahme als inszeniert und mehrdeutig.
Durch die Kombination inhaltlicher und formaler Vielschichtigkeit steht Macuga auf den Schultern Hannah Ryggens, die ebenfalls durch ikonografisch eigenwillige und technisch ausgefeilte Webereien Aufmerksamkeit für ihre Botschaften erzielt. Beide Künstlerinnen setzen somit ästhetische Methoden zur komplexen Darstellung politischer Ereignisse ein.
Eine solche ästhetische Aufbereitung nicht-retinaler Inhalte ist nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung. Denn statt Inhalte durch gefällige Formen eingängig zu machen, werden abstrakte Phänomene sinnlich erfahrbar und so politisch aussagekräftig.
HIStory
Nach dem Prinzip, wer seine Vergangenheit nicht erinnert, wiederholt sie, werden zahlreiche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt.
Eine Chimäre aus Mickey Mouse und Mudschaheddin patrouilliert durch Llyn Foulkes Installation, die als Bühnenbild des posthumanistischen Zeitalters durchgehen könnte: Der Day After all dessen, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Die Umgebung ist zweideutig: Stadt- oder Ruinenlandschaft, unberührtes Geröll oder Trümmerfeld, Vergangenheit oder Zukunft? Durch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird die Taliban Mouse zu Walter Benjamins Angelus Novus:
HERstory
Die eingangs erwähnte Identität der privaten und kollektiven Sphäre veranlasste KünstlerInnen der 1970er Jahre zur programmatischen Offenbarung des Unterdrückten im Interesse psychischer und physischer Befreiung. Dieser Tradition der Transparenz als Mittel politischer Emanzipation fühlt sich Ida Applebroog spätestens seit 1969 verbunden, als sie 160 Zeichnungen ihrer Vagina anfertigte, die sie später, zu Plakaten vergrößert, als Rauminstallation präsentierte. Verglichen mit dieser wegweisenden Geste nimmt sich die Veröffentlichung einzelner Tagebuchseiten eher schüchtern aus. Ziel jedoch ist nicht eine weitere Grenzüberschreitung als vielmehr die abermalige Integration der privaten in die öffentliche Dimension.
Ein vergleichbares Angebot von Transparenz stellt Lori Waxmans Angebot dar, mitgebrachte Arbeiten der BesucherInnen 25 Minuten lang zu begutachten, um anschließend vor aller Augen eine Kritik von 100 bis 200 Wörtern zu verfassen, und so eine undurchsichtige Prozess unter Einschluss der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.
Tunix
Entzug, Weigerung, Abwesenheit – Bartlebys Geist ist allgegenwärtig. Dieser passive Widerstand kann sich gegen die Teilnahme am Zeitgeschehen wenden, wie etwa im Fall von Giorgio Morandi, der sich während der Zeit des Faschismus in seine Malerei zurückzog, oder auch gegen die am realexistierenden Kunstbetrieb. Ein solch grundsätzliches 'I Would Prefer Not To' durchweht Ryan Ganders Inter-Vent-ion, Kai Althoffs schriftliche Absage, Song Dongs Do Nothing Garden, sowie Gustav Metzgers lebenslangen „Lobgesang auf die Zerstörung.“
Zivilisationskritik äußert sich auch in Andrea Büttners Videodokumentation über im Schausteller-Millieu engagierte Ordensfrauen, ergänzt von Holzschnitten, die abstrahierte Zelte darstellen – Behausung der Nichtsesshaften und Flüchtlinge.
Bodenständig
Mit diesem Sinnbild der Wanderung knüpft Büttner an den allgegenwärtigen Topos der Migration an, wie es auch Sopheap Pichs Materialsymbolik gelingt Nach zwanzig Jahren künstlerischer Sozialisation in den USA nach Korea zurückgekehrt, gehört Pich zu den TeilnehmerInnen, deren Vokabular verschiedene Kulturkreise reflektiert. Nach seiner Re-Migration gestaltet Pich das Raster- eine international durchgesetzte Figur westlicher Minimal Art - mit für Korea charakteristischen Materialien.
Die Erfindung des Tafelbildes markierte einst den Übergang vom religiös motivierten Handwerk zur Kunst. Die an den Flügelaltar gebundene Malerei wurde mobil und ließ sich verschiedenen Kontexten anpassen. Nun holt Pich die Standortgebundenheit zurück ins Tafelbild. Mit dem für lokale Eigenheiten sensibilisierten Blick des Rückkehrers fertigt er das universale Raster aus einheimischen Rohstoffen Bambus, Erden und Bienenwachs an.
Die sich aus diesen ortsgebundenen Elementen ergebende Abstraktion Koreas stellt die so materielle wie spezielle Antwort auf Alighiero Boettis mit Nationalflaggen versehene Weltkarte dar - die zeichenhafte Abbildung eines Systems, dessen globale Dimension lediglich nationale, nicht aber regionale Eigenheiten erkennen lässt. Boettis Darstellung territorialer Verteilung durch die Grafik von Flaggen verdeutlicht die Machtverteilung zur Zeit, da die Verteilung von Gut und Böse noch in den klaren Grenzen von Ost und West verlief.
Verglichen mit Pichs Erdung der universell transportablen Währung Bild schlägt Doreen Reid Nakamarra die umgekehrte Richtung ein. Um den Verkauf zu ermöglichen, überträgt sie ihre, nach der Tradition der Aborigines auf dem Boden ausgeführten Arbeiten auf Leinwand und speist so die einstige Bodenzeichnung in den globalen Kunsthandel ein.
Diese Verwandlung von Erde zu Geld gehört zu den Werken, die das Verhältnis abstrakter und konkreter Werte thematisieren – allen voran die wirtschaftliche Ab- und Aufwertung der Elemente Erde, (Amar Kanwar), Wasser (Maria Thereza Alves) Luft (Amy Balkin) und menschlicher Arbeitskraft (Time/Bank).
Ja, aber. Was ist denn nun daran politisch?
Die interdisziplinäre Ausrichtung der dOCUMENTA (13) deutet darauf hin, dass ein Grund für das Scheitern politischer Programme im Outsourcing einzelner Segmente aus dem politischen Aktionsradius liegt. Statt die Anliegen wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Bereiche rechtzeitig im politischen Zusammenhang zu thematisieren, werden die Sprengkraft bergenden Felder aus dem politischen Geschehen ausgelagert.
Kunst hingegen reduziert ihre gesellschaftliche Relevanz durch ein ähnliches Outsourcing von 'allem Anderen'. Selbstverständlich ist die damit verkürzt beschriebene Arbeitsteilung der zunehmenden Betonung von Synergieeffekten gewichen, und die Suche nach Schnittstellen zur Voraussetzung effizienten Networkings geworden. Doch solang wohlmeinende Absichtserklärungen und Beteuerungen einer grundsätzlichen Verbundenheit allen Seins keinerlei Bedrohung darstellen für Wettbewerb und Lagerdenken innerhalb der Disziplinen, kommt der programmatischen Überschreitung von Gattungsgrenzen zukunftsweisende Bedeutung zu. Zudem demonstriert das Hervorheben künstlerischer Aspekte in außerkünstlerischen Bereichen die Unmöglichkeit, Kunst herauszulösen aus dem, was Reinhardt 'alles Andere' nannte.
Die Anwendung künstlerischer Mittel zu 'anderen' Zwecken verweist auf den Unterschied zwischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung. Während ersteres die Anwendung spezifischer Methoden zugunsten übergeordneter Ziele bedeutet, steht Instrumentalisierung für die Zurichtung solcher Methoden im Dienste fremder Anliegen.
Angesichts dieser Optionen des selbst- und fremdbestimmtem Engagements tendiert die dOCUMENTA (13) zur Funktionalisierung, d.h. zur Anwendung künstlerischer Strategien im Interesse sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele.
Das Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Altersgruppen und Kunstgeschichten verschiedener Zeiten und Räume lässt die Hierarchien des Kunstbetriebs anachronistisch scheinen. Auch die Integration verschiedener Wahrnehmungsformen hat Modellcharakter, da Lösungen für wirtschaftliche und ökologische Probleme eine Erweiterung der auf Menschen zentrierten Sicht erfordern.
All diese Prinzipien – Interdisziplinarität, Einsatz künstlerischer Praktiken zugunsten nicht-künstlerischer Ziele, sowie Dezentralisierung – treten im Rahmen der Ausstellung und der sie begleitenden Veranstaltungen vielfältig in Erscheinung. Indem sie die vielzitierten Möglichkeitsräume auf genuin künstlerische Weise inszeniert, tut Kunst ihr Bestes für 'alles andere'.
1) http://de.wikipedia.org/wiki/Korbinian_Aigner
Charlotte Lindenberg
Der folgende Text eignet sich besonders für diejenigen, die die Ausstellung gesehen haben, da einzelne Arbeiten nicht beschrieben, sondern nur erwähnt werden.
Politische Kunst: Unvereinbar oder unzertrennlich?
Lang galt die Kombination 'politische Kunst' als Oxymoron seitens der VertreterInnen künstlerischer Autonomie, die vor Instrumentalisierung der per se freien Kunst warnten. Entsprechend Ad Reinhardts Postulat, Kunst sei Kunst und alles Andere alles Andere, sei Kunst nichts und niemand zu Diensten. Doch mit der Erkenntnis kollektiver Ursachen und Wirkungen individuellen Handelns, wie unabhängig es sich auch wähnt, wurde das Oxymoron zur Tautologie: Produziert und rezipiert unter gesellschaftlichen Bedingungen, gilt Kunst als grundsätzlich politisch. Wie aber löst die dOCUMENTA (13) ihren dezidiert politischen Anspruch ein?
Das duale Prinzip
Ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Allgegenwart von 'collapse and recovery' – zwei Wörter, die sich mit unterschiedlichen Begriffen übersetzen lassen: Zusammenbruch und Zerstörung, bzw. Wiederaufbau und Heilung.
Die Schwierigkeit, zu erkennen, ob der Ist-Zustand, von dem die KünstlerInnen ausgehen, sich dem Zusammenbruch oder der Zerstörung von Gebäuden, Biografien oder Gesellschaften verdankt, verweist auf die folgenschwere Beziehung zwischen Implosion und Explosion: Wie schwach muss ein Organismus sein, um Aggressoren zu ermutigen? Oder umgekehrt: Wie viel äußere Einwirkung ist notwendig, bis Systeme oder Individuen in sich zusammenfallen? In den meisten Fällen der auf der dOCUMENTA (13) thematisierten Krisenherde fällt die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer schwer. Daher verdeutlichen viele Arbeiten die gleichzeitige Eskalation von veralteten Strukturen und den von ihnen provozierten Attacken. Zerstörung und Zusammenbruch folgen einander unauflösbar wie ein Möbiusband.
Die Wahl zwischen Wiederaufbau und Heilung hingegen ist leichter, da Wiederaufbau die Rekonstruktion eines früheren Zustands impliziert. Eine solche Wiederherstellung des Verlorenen aber ist selten das Anliegen. Statt restitutiver Hoffnungen überwiegen visionäre. Das Vorher fungiert allenfalls als Lehre.
Anders als die Rückkehr zum status quo impliziert die Vorstellung von Heilung eine ergebnisoffene Veränderung – sei es auf kollektiver oder individueller Ebene.
Jenseits der Twenty-Somethings
Einzelne Aspekte der Ausstellung haben appellativen Charakter, wie beispielsweise die Anhebung des Altersdurchschnitts von TeilnehmerInnen und Exponaten. So lässt sich der Auftritt von zwei 1925 geborenen Künstlerinnen und einem ein Jahr jüngeren Kollegen als Affront gegen die im Kunstbetrieb herrschende Altershierarchie verstehen, derzufolge vor 1970 Geborene für den Markt nur dann interessant sind, wenn sie sich anhaltenden Erfolgs erfreuen.
Synchronizität der Ereignisse: Abgelegene Modernen
Neben dem Alter der TeilnehmerInnen steigt auch das der Werke. Nachdem die Begeisterung für Gegenwartskunst in den neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, avancierte die als überholt geltende Moderne zum Referenzpunkt aktueller Kunstproduktion. 2007 veranlasste die erstaunliche Menge frisch erfundener Räder Buergel und Noack zu der Überlegung, ob die Moderne vielleicht 'unsere Antike' sei – eine Art Lummerland, wo das Schönegutewahre haust.
Die dOCUMENTA (13) setzt diese Revision von Formen und Inhalten der Moderne fort, indem sie moderne KünstlerInnen jenseits der üblichen Verdächtigen in Erinnerung ruft.
So übertragen Hannah Ryggens Webereien die internationale Politik der 1930er Jahre in ein Amalgam der in Europa präsenten Formsprachen. Emily Carrs und Margaret Prestons Gemälde hingegen verbinden Prinzipien der Klassischen Moderne mit denen der Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, bzw. der australischen Aborigines.
Emily Carr |
Die Vermessung der Kunstwelt
Mit der Öffnung des Zeitfensters erweitert sich auch der geografische Rahmen. Die Integration des Geschehens außerhalb von Europa und den USA ist auf Biennalen, und seit der zehnten auch auf der documenta selbstverständlich. Doch angesichts der noch immer von nationalen Interessen bestimmten Ankaufspolitik der Museen und Sammlungen kommt der Aufmerksamkeit für die Kunstgeschichte abseits traditioneller Zentren Signalcharakter zu.
Grenzwertig
Neben diesen Bemühungen um die raumzeitliche Erweiterung des Kunstbegriffs schließt die Ausstellung allerlei 'everything else' ein, angesichts dessen sich die Frage stellt, was daran Kunst sei. Ein Grund für solche Interaktionen ist die Überlegung, dass die Kooperation mit sozialen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Metiers die gesellschaftspolitische Reichweite von Kunst erhöht.
Tarnanstriche
Ohne künstlerische Absicht entstandene Exponate fungieren als ästhetische Lockvögel, die die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen, nicht-ästhetischen Gegenstand lenken.
Infolge eines Kommentars zum Attentat auf Hitler 1939 („Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden" 1) wird Korbinian Aigner zur Zwangsarbeit in Dachau verurteilt, wo er vier neue Apfelsorten züchtet und sie KZ 1 bis 4 nennt. Der Grund für Aigners Anwesenheit auf der documenta sind demnach nicht die mit wissenschaftlicher Präzision gemalten Äpfel als vielmehr die Geschichte vom inhaftierten Dissidenten, der im Wissen um den morgigen Weltuntergang Apfelbäumchen pflanzt und so die tätige Umsetzung des Prinzips Hoffnung verkörpert.
Auch die Anwesenheit von Mark Lombardis minutiösen Geweben verdankt sich nicht ihrer grafischen Attraktivität. Ihr dekoratives Äußeres diente der Offenlegung geheimer Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, deren Nebenprodukt die visuell ansprechenden Diagramme darstellen. Dass die künstlerische Leiterin deren ästhetischem Reiz erlegen ist, zeigt die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Personen, Firmen und Institutionen durch elegant geschwungene Linien markiert, die Art dieser Kontakte aber undefiniert ist.
Anders als im Fall von Aigner und Lombardi, wo Formen allein dem Transport von Inhalten dienen, sind bei Goshka Macuga beide Komponenten gleichermaßen ausdrucksstark. Unterhalb der Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul haben sich Angehörige des afghanischen und internationalen Kulturbetriebs eingefunden. Die Situation ist von surrealen Versatzstücken unterbrochen, wodurch die Form der Arbeit auf zweierlei Weise irritiert: Optisch ist das vermeintliche Foto eine Foto-Montage, und materiell ein Gewebe. Auch inhaltlich erweist sich die sich dokumentarisch gerierende Aufnahme als inszeniert und mehrdeutig.
Durch die Kombination inhaltlicher und formaler Vielschichtigkeit steht Macuga auf den Schultern Hannah Ryggens, die ebenfalls durch ikonografisch eigenwillige und technisch ausgefeilte Webereien Aufmerksamkeit für ihre Botschaften erzielt. Beide Künstlerinnen setzen somit ästhetische Methoden zur komplexen Darstellung politischer Ereignisse ein.
Hannah Ryggen |
Macuga | Of What Is |
Eine solche ästhetische Aufbereitung nicht-retinaler Inhalte ist nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung. Denn statt Inhalte durch gefällige Formen eingängig zu machen, werden abstrakte Phänomene sinnlich erfahrbar und so politisch aussagekräftig.
HIStory
Nach dem Prinzip, wer seine Vergangenheit nicht erinnert, wiederholt sie, werden zahlreiche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt.
Eine Chimäre aus Mickey Mouse und Mudschaheddin patrouilliert durch Llyn Foulkes Installation, die als Bühnenbild des posthumanistischen Zeitalters durchgehen könnte: Der Day After all dessen, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Die Umgebung ist zweideutig: Stadt- oder Ruinenlandschaft, unberührtes Geröll oder Trümmerfeld, Vergangenheit oder Zukunft? Durch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird die Taliban Mouse zu Walter Benjamins Angelus Novus:
„Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. […] ein Sturm [...] treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Die Janusköpfigkeit der Bilder, die verschiedenen Zeiten anzugehören scheinen, setzt sich in Mariam Ghanis Synchronisation der Geschichte Kabuls und Kassels fort, in der das Innere eines einst, neben dem eines noch immer verwüsteten Herrschaftsgebäudes erscheinen. Die Renovierung, die zwischen dem kriegsversehrten und dem heutigen Fridericianum stattfand, steht dem Darulaman-Palast noch bevor. Doch die in den Details zutage tretende Unterschiedlichkeit beider Bauten verweist auf kulturelle Identitäten, die ihre spezifischen Entwicklungen fordern.HERstory
Die eingangs erwähnte Identität der privaten und kollektiven Sphäre veranlasste KünstlerInnen der 1970er Jahre zur programmatischen Offenbarung des Unterdrückten im Interesse psychischer und physischer Befreiung. Dieser Tradition der Transparenz als Mittel politischer Emanzipation fühlt sich Ida Applebroog spätestens seit 1969 verbunden, als sie 160 Zeichnungen ihrer Vagina anfertigte, die sie später, zu Plakaten vergrößert, als Rauminstallation präsentierte. Verglichen mit dieser wegweisenden Geste nimmt sich die Veröffentlichung einzelner Tagebuchseiten eher schüchtern aus. Ziel jedoch ist nicht eine weitere Grenzüberschreitung als vielmehr die abermalige Integration der privaten in die öffentliche Dimension.
Ein vergleichbares Angebot von Transparenz stellt Lori Waxmans Angebot dar, mitgebrachte Arbeiten der BesucherInnen 25 Minuten lang zu begutachten, um anschließend vor aller Augen eine Kritik von 100 bis 200 Wörtern zu verfassen, und so eine undurchsichtige Prozess unter Einschluss der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.
Ida Applebroog | I See by Your Fingernails |
Tunix
Entzug, Weigerung, Abwesenheit – Bartlebys Geist ist allgegenwärtig. Dieser passive Widerstand kann sich gegen die Teilnahme am Zeitgeschehen wenden, wie etwa im Fall von Giorgio Morandi, der sich während der Zeit des Faschismus in seine Malerei zurückzog, oder auch gegen die am realexistierenden Kunstbetrieb. Ein solch grundsätzliches 'I Would Prefer Not To' durchweht Ryan Ganders Inter-Vent-ion, Kai Althoffs schriftliche Absage, Song Dongs Do Nothing Garden, sowie Gustav Metzgers lebenslangen „Lobgesang auf die Zerstörung.“
Zivilisationskritik äußert sich auch in Andrea Büttners Videodokumentation über im Schausteller-Millieu engagierte Ordensfrauen, ergänzt von Holzschnitten, die abstrahierte Zelte darstellen – Behausung der Nichtsesshaften und Flüchtlinge.
Bodenständig
Mit diesem Sinnbild der Wanderung knüpft Büttner an den allgegenwärtigen Topos der Migration an, wie es auch Sopheap Pichs Materialsymbolik gelingt Nach zwanzig Jahren künstlerischer Sozialisation in den USA nach Korea zurückgekehrt, gehört Pich zu den TeilnehmerInnen, deren Vokabular verschiedene Kulturkreise reflektiert. Nach seiner Re-Migration gestaltet Pich das Raster- eine international durchgesetzte Figur westlicher Minimal Art - mit für Korea charakteristischen Materialien.
Die Erfindung des Tafelbildes markierte einst den Übergang vom religiös motivierten Handwerk zur Kunst. Die an den Flügelaltar gebundene Malerei wurde mobil und ließ sich verschiedenen Kontexten anpassen. Nun holt Pich die Standortgebundenheit zurück ins Tafelbild. Mit dem für lokale Eigenheiten sensibilisierten Blick des Rückkehrers fertigt er das universale Raster aus einheimischen Rohstoffen Bambus, Erden und Bienenwachs an.
Die sich aus diesen ortsgebundenen Elementen ergebende Abstraktion Koreas stellt die so materielle wie spezielle Antwort auf Alighiero Boettis mit Nationalflaggen versehene Weltkarte dar - die zeichenhafte Abbildung eines Systems, dessen globale Dimension lediglich nationale, nicht aber regionale Eigenheiten erkennen lässt. Boettis Darstellung territorialer Verteilung durch die Grafik von Flaggen verdeutlicht die Machtverteilung zur Zeit, da die Verteilung von Gut und Böse noch in den klaren Grenzen von Ost und West verlief.
Boetti | Mappa |
Verglichen mit Pichs Erdung der universell transportablen Währung Bild schlägt Doreen Reid Nakamarra die umgekehrte Richtung ein. Um den Verkauf zu ermöglichen, überträgt sie ihre, nach der Tradition der Aborigines auf dem Boden ausgeführten Arbeiten auf Leinwand und speist so die einstige Bodenzeichnung in den globalen Kunsthandel ein.
Diese Verwandlung von Erde zu Geld gehört zu den Werken, die das Verhältnis abstrakter und konkreter Werte thematisieren – allen voran die wirtschaftliche Ab- und Aufwertung der Elemente Erde, (Amar Kanwar), Wasser (Maria Thereza Alves) Luft (Amy Balkin) und menschlicher Arbeitskraft (Time/Bank).
Ja, aber. Was ist denn nun daran politisch?
Die interdisziplinäre Ausrichtung der dOCUMENTA (13) deutet darauf hin, dass ein Grund für das Scheitern politischer Programme im Outsourcing einzelner Segmente aus dem politischen Aktionsradius liegt. Statt die Anliegen wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Bereiche rechtzeitig im politischen Zusammenhang zu thematisieren, werden die Sprengkraft bergenden Felder aus dem politischen Geschehen ausgelagert.
Kunst hingegen reduziert ihre gesellschaftliche Relevanz durch ein ähnliches Outsourcing von 'allem Anderen'. Selbstverständlich ist die damit verkürzt beschriebene Arbeitsteilung der zunehmenden Betonung von Synergieeffekten gewichen, und die Suche nach Schnittstellen zur Voraussetzung effizienten Networkings geworden. Doch solang wohlmeinende Absichtserklärungen und Beteuerungen einer grundsätzlichen Verbundenheit allen Seins keinerlei Bedrohung darstellen für Wettbewerb und Lagerdenken innerhalb der Disziplinen, kommt der programmatischen Überschreitung von Gattungsgrenzen zukunftsweisende Bedeutung zu. Zudem demonstriert das Hervorheben künstlerischer Aspekte in außerkünstlerischen Bereichen die Unmöglichkeit, Kunst herauszulösen aus dem, was Reinhardt 'alles Andere' nannte.
Die Anwendung künstlerischer Mittel zu 'anderen' Zwecken verweist auf den Unterschied zwischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung. Während ersteres die Anwendung spezifischer Methoden zugunsten übergeordneter Ziele bedeutet, steht Instrumentalisierung für die Zurichtung solcher Methoden im Dienste fremder Anliegen.
Angesichts dieser Optionen des selbst- und fremdbestimmtem Engagements tendiert die dOCUMENTA (13) zur Funktionalisierung, d.h. zur Anwendung künstlerischer Strategien im Interesse sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele.
Das Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Altersgruppen und Kunstgeschichten verschiedener Zeiten und Räume lässt die Hierarchien des Kunstbetriebs anachronistisch scheinen. Auch die Integration verschiedener Wahrnehmungsformen hat Modellcharakter, da Lösungen für wirtschaftliche und ökologische Probleme eine Erweiterung der auf Menschen zentrierten Sicht erfordern.
All diese Prinzipien – Interdisziplinarität, Einsatz künstlerischer Praktiken zugunsten nicht-künstlerischer Ziele, sowie Dezentralisierung – treten im Rahmen der Ausstellung und der sie begleitenden Veranstaltungen vielfältig in Erscheinung. Indem sie die vielzitierten Möglichkeitsräume auf genuin künstlerische Weise inszeniert, tut Kunst ihr Bestes für 'alles andere'.
1) http://de.wikipedia.org/wiki/Korbinian_Aigner
Charlotte Lindenberg
Samstag, 30. Juni 2012
Widersprüchliches
"Der Fehler beginnt schon da, wo sich einer anschickt Pinsel und Leinwand zu kaufen."
Joseph Beuys
"Großen Ruhm wird der verdienen,
der Farben kauft und malt mit ihnen."
Wilhelm Busch
Joseph Beuys
"Großen Ruhm wird der verdienen,
der Farben kauft und malt mit ihnen."
Wilhelm Busch
Dienstag, 26. Juni 2012
Stay Alone! Die unCommunity
Jeder hasst es, jeder macht es: social networking. Endlich gibt es das leise Internet - die Alternative zu facebook & Co.: stay-alone.de
"Hier findest Du keine Freunde und keine Beziehung. Hier hast Du kein Profil und keine Emailfunktion. Hier kannst Du keine Bilder, keine Filme und keine Musik hochladen. Hier gibt es nichts zu sehen oder zu hören."
Soweit die Betreiber der Seite, Fabian Stein und Tobias Ziegler. Ich kann dies bestätigen und werde mir zukünftig beim tab browsing stets mein persönliches Nichtkonto bei der unCommunity
Stay Alone! offenhalten. Für den kurzen Netzurlaub.
André Debus
"Hier findest Du keine Freunde und keine Beziehung. Hier hast Du kein Profil und keine Emailfunktion. Hier kannst Du keine Bilder, keine Filme und keine Musik hochladen. Hier gibt es nichts zu sehen oder zu hören."
Soweit die Betreiber der Seite, Fabian Stein und Tobias Ziegler. Ich kann dies bestätigen und werde mir zukünftig beim tab browsing stets mein persönliches Nichtkonto bei der unCommunity
Stay Alone! offenhalten. Für den kurzen Netzurlaub.
André Debus
Freitag, 15. Juni 2012
Kalchreuth und Albrecht Dürer
Was haben Kalchreuth und Albrecht Dürer miteinander zu tun? Wollt Ihr, dass ich es Euch verrate? Nee, nee. Da müsst Ihr schon selber vorbeigucken in der Zehntscheune in Kalchreuth und es in Erfahrung bringen: www.kalchreuth-und-duerer.de
Und dazu könnt Ihr Euch auch gleich eine hochkarätig besetzte Ausstellung besehen. Denn ich stelle mit aus:
Und auch sonst sind noch ein paar Künstler mit dabei: Peter Angermann, Henrik Hold, Gertrud Nein, Uli Olpp, Dan Reeder, Monika Ritter, Claudia Rösener, Harri Schemm, Gerd Weiland, Tessa Wolkersdorfer, Joseph Stephan Wurmer, Reiner Zitta.
Und diesen Sonntag, den 17. Juni ist dort ab 11 Uhr auch schon die Eröffnung am Schloßplatz 1 in Kalchreuth. Kommet und genießet große Dürer-Kollegen in Scharen.
André Debus
P.S. Ein Tipp für Radfahrer: Lasst Euer Auto zuhause stehen und kommt mit dem Rad. Es macht nämlich echt Freude nach Kalchreuth raufzufahren. Und natürlich noch mehr Freude wieder runterzufahren.
Und dazu könnt Ihr Euch auch gleich eine hochkarätig besetzte Ausstellung besehen. Denn ich stelle mit aus:
"Das Staunen der Welt", Öl auf Leinwand, 200 cm x 150 cm, 2008 |
Und diesen Sonntag, den 17. Juni ist dort ab 11 Uhr auch schon die Eröffnung am Schloßplatz 1 in Kalchreuth. Kommet und genießet große Dürer-Kollegen in Scharen.
André Debus
P.S. Ein Tipp für Radfahrer: Lasst Euer Auto zuhause stehen und kommt mit dem Rad. Es macht nämlich echt Freude nach Kalchreuth raufzufahren. Und natürlich noch mehr Freude wieder runterzufahren.
Mittwoch, 13. Juni 2012
NOK&T
Wer kann, der möge bitte das Gemeente-Museum Den Haag im Zeitraum vom 16. Juni bis 19. August besuchen. Dort gibt es eine sehenswerte Ausstellung: http://treesjeb.tumblr.com/
Behaupte ich mal so.
André Debus
Behaupte ich mal so.
André Debus
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