Montag, 17. September 2012

Was is daran politisch? Die dOCUMENTA (13) und die politische Kunst

Zum Geleit
Der folgende Text eignet sich besonders für diejenigen, die die Ausstellung gesehen haben, da einzelne Arbeiten nicht beschrieben, sondern nur erwähnt werden.

Politische Kunst: Unvereinbar oder unzertrennlich?
Lang galt die Kombination 'politische Kunst' als Oxymoron seitens der VertreterInnen künstlerischer Autonomie, die vor Instrumentalisierung der per se freien Kunst warnten. Entsprechend Ad Reinhardts Postulat, Kunst sei Kunst und alles Andere alles Andere, sei Kunst nichts und niemand zu Diensten. Doch mit der Erkenntnis kollektiver Ursachen und Wirkungen individuellen Handelns, wie unabhängig es sich auch wähnt, wurde das Oxymoron zur Tautologie: Produziert und rezipiert unter gesellschaftlichen Bedingungen, gilt Kunst als grundsätzlich politisch. Wie aber löst die dOCUMENTA (13) ihren dezidiert politischen Anspruch ein?

Das duale Prinzip
Ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Allgegenwart von 'collapse and recovery' – zwei Wörter, die sich mit unterschiedlichen Begriffen übersetzen lassen: Zusammenbruch und Zerstörung, bzw. Wiederaufbau und Heilung.
Die Schwierigkeit, zu erkennen, ob der Ist-Zustand, von dem die KünstlerInnen ausgehen, sich dem Zusammenbruch oder der Zerstörung von Gebäuden, Biografien oder Gesellschaften verdankt, verweist auf die folgenschwere Beziehung zwischen Implosion und Explosion: Wie schwach muss ein Organismus sein, um Aggressoren zu ermutigen? Oder umgekehrt: Wie viel äußere Einwirkung ist notwendig, bis Systeme oder Individuen in sich zusammenfallen? In den meisten Fällen der auf der dOCUMENTA (13) thematisierten Krisenherde fällt die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer schwer. Daher verdeutlichen viele Arbeiten die gleichzeitige Eskalation von veralteten Strukturen und den von ihnen provozierten Attacken. Zerstörung und Zusammenbruch folgen einander unauflösbar wie ein Möbiusband.
Die Wahl zwischen Wiederaufbau und Heilung hingegen ist leichter, da Wiederaufbau die Rekonstruktion eines früheren Zustands impliziert. Eine solche Wiederherstellung des Verlorenen aber ist selten das Anliegen. Statt restitutiver Hoffnungen überwiegen visionäre. Das Vorher fungiert allenfalls als Lehre.
Anders als die Rückkehr zum status quo impliziert die Vorstellung von Heilung eine ergebnisoffene Veränderung – sei es auf kollektiver oder individueller Ebene.

Jenseits der Twenty-Somethings
Einzelne Aspekte der Ausstellung haben appellativen Charakter, wie beispielsweise die Anhebung des Altersdurchschnitts von TeilnehmerInnen und Exponaten. So lässt sich der Auftritt von zwei 1925 geborenen Künstlerinnen und einem ein Jahr jüngeren Kollegen als Affront gegen die im Kunstbetrieb herrschende Altershierarchie verstehen, derzufolge vor 1970 Geborene für den Markt nur dann interessant sind, wenn sie sich anhaltenden Erfolgs erfreuen.

Synchronizität der Ereignisse: Abgelegene Modernen
Neben dem Alter der TeilnehmerInnen steigt auch das der Werke. Nachdem die Begeisterung für Gegenwartskunst in den neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, avancierte die als überholt geltende Moderne zum Referenzpunkt aktueller Kunstproduktion. 2007 veranlasste die erstaunliche Menge frisch erfundener Räder Buergel und Noack zu der Überlegung, ob die Moderne vielleicht 'unsere Antike' sei – eine Art Lummerland, wo das Schönegutewahre haust.
Die dOCUMENTA (13) setzt diese Revision von Formen und Inhalten der Moderne fort, indem sie moderne KünstlerInnen jenseits der üblichen Verdächtigen in Erinnerung ruft.
So übertragen Hannah Ryggens Webereien die internationale Politik der 1930er Jahre in ein Amalgam der in Europa präsenten Formsprachen. Emily Carrs und Margaret Prestons Gemälde hingegen verbinden Prinzipien der Klassischen Moderne mit denen der Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, bzw. der australischen Aborigines.

Emily Carr


Die Vermessung der Kunstwelt
Mit der Öffnung des Zeitfensters erweitert sich auch der geografische Rahmen. Die Integration des Geschehens außerhalb von Europa und den USA ist auf Biennalen, und seit der zehnten auch auf der documenta selbstverständlich. Doch angesichts der noch immer von nationalen Interessen bestimmten Ankaufspolitik der Museen und Sammlungen kommt der Aufmerksamkeit für die Kunstgeschichte abseits traditioneller Zentren Signalcharakter zu.

Grenzwertig
Neben diesen Bemühungen um die raumzeitliche Erweiterung des Kunstbegriffs schließt die Ausstellung allerlei 'everything else' ein, angesichts dessen sich die Frage stellt, was daran Kunst sei. Ein Grund für solche Interaktionen ist die Überlegung, dass die Kooperation mit sozialen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Metiers die gesellschaftspolitische Reichweite von Kunst erhöht.

Tarnanstriche
Ohne künstlerische Absicht entstandene Exponate fungieren als ästhetische Lockvögel, die die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen, nicht-ästhetischen Gegenstand lenken.
Infolge eines Kommentars zum Attentat auf Hitler 1939 („Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden" 1) wird Korbinian Aigner zur Zwangsarbeit in Dachau verurteilt, wo er vier neue Apfelsorten züchtet und sie KZ 1 bis 4 nennt. Der Grund für Aigners Anwesenheit auf der documenta sind demnach nicht die mit wissenschaftlicher Präzision gemalten Äpfel als vielmehr die Geschichte vom inhaftierten Dissidenten, der im Wissen um den morgigen Weltuntergang Apfelbäumchen pflanzt und so die tätige Umsetzung des Prinzips Hoffnung verkörpert.
Auch die Anwesenheit von Mark Lombardis minutiösen Geweben verdankt sich nicht ihrer grafischen Attraktivität. Ihr dekoratives Äußeres diente der Offenlegung geheimer Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, deren Nebenprodukt die visuell ansprechenden Diagramme darstellen. Dass die künstlerische Leiterin deren ästhetischem Reiz erlegen ist, zeigt die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Personen, Firmen und Institutionen durch elegant geschwungene Linien markiert, die Art dieser Kontakte aber undefiniert ist.

Anders als im Fall von Aigner und Lombardi, wo Formen allein dem Transport von Inhalten dienen, sind bei Goshka Macuga beide Komponenten gleichermaßen ausdrucksstark. Unterhalb der Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul haben sich Angehörige des afghanischen und internationalen Kulturbetriebs eingefunden. Die Situation ist von surrealen Versatzstücken unterbrochen, wodurch die Form der Arbeit auf zweierlei Weise irritiert: Optisch ist das vermeintliche Foto eine Foto-Montage, und materiell ein Gewebe. Auch inhaltlich erweist sich die sich dokumentarisch gerierende Aufnahme als inszeniert und mehrdeutig.
Durch die Kombination inhaltlicher und formaler Vielschichtigkeit steht Macuga auf den Schultern Hannah Ryggens, die ebenfalls durch ikonografisch eigenwillige und technisch ausgefeilte Webereien Aufmerksamkeit für ihre Botschaften erzielt. Beide Künstlerinnen setzen somit ästhetische Methoden zur komplexen Darstellung politischer Ereignisse ein.

Hannah Ryggen
Macuga | Of What Is


Eine solche ästhetische Aufbereitung nicht-retinaler Inhalte ist nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung. Denn statt Inhalte durch gefällige Formen eingängig zu machen, werden abstrakte Phänomene sinnlich erfahrbar und so politisch aussagekräftig.

HIStory
Nach dem Prinzip, wer seine Vergangenheit nicht erinnert, wiederholt sie, werden zahlreiche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt.
Eine Chimäre aus Mickey Mouse und Mudschaheddin patrouilliert durch Llyn Foulkes Installation, die als Bühnenbild des posthumanistischen Zeitalters durchgehen könnte: Der Day After all dessen, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Die Umgebung ist zweideutig: Stadt- oder Ruinenlandschaft, unberührtes Geröll oder Trümmerfeld, Vergangenheit oder Zukunft? Durch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird die Taliban Mouse zu Walter Benjamins Angelus Novus:
„Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. […] ein Sturm [...] treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Die Janusköpfigkeit der Bilder, die verschiedenen Zeiten anzugehören scheinen, setzt sich in Mariam Ghanis Synchronisation der Geschichte Kabuls und Kassels fort, in der das Innere eines einst, neben dem eines noch immer verwüsteten Herrschaftsgebäudes erscheinen. Die Renovierung, die zwischen dem kriegsversehrten und dem heutigen Fridericianum stattfand, steht dem Darulaman-Palast noch bevor. Doch die in den Details zutage tretende Unterschiedlichkeit beider Bauten verweist auf kulturelle Identitäten, die ihre spezifischen Entwicklungen fordern.

HERstory
Die eingangs erwähnte Identität der privaten und kollektiven Sphäre veranlasste KünstlerInnen der 1970er Jahre zur programmatischen Offenbarung des Unterdrückten im Interesse psychischer und physischer Befreiung. Dieser Tradition der Transparenz als Mittel politischer Emanzipation fühlt sich Ida Applebroog spätestens seit 1969 verbunden, als sie 160 Zeichnungen ihrer Vagina anfertigte, die sie später, zu Plakaten vergrößert, als Rauminstallation präsentierte. Verglichen mit dieser wegweisenden Geste nimmt sich die Veröffentlichung einzelner Tagebuchseiten eher schüchtern aus. Ziel jedoch ist nicht eine weitere Grenzüberschreitung als vielmehr die abermalige Integration der privaten in die öffentliche Dimension.
Ein vergleichbares Angebot von Transparenz stellt Lori Waxmans Angebot dar, mitgebrachte Arbeiten der BesucherInnen 25 Minuten lang zu begutachten, um anschließend vor aller Augen eine Kritik von 100 bis 200 Wörtern zu verfassen, und so eine undurchsichtige Prozess unter Einschluss der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Ida Applebroog | I See by Your Fingernails


Tunix
Entzug, Weigerung, Abwesenheit – Bartlebys Geist ist allgegenwärtig. Dieser passive Widerstand kann sich gegen die Teilnahme am Zeitgeschehen wenden, wie etwa im Fall von Giorgio Morandi, der sich während der Zeit des Faschismus in seine Malerei zurückzog, oder auch gegen die am realexistierenden Kunstbetrieb. Ein solch grundsätzliches 'I Would Prefer Not To' durchweht Ryan Ganders Inter-Vent-ion, Kai Althoffs schriftliche Absage, Song Dongs Do Nothing Garden, sowie Gustav Metzgers lebenslangen „Lobgesang auf die Zerstörung.“
Zivilisationskritik äußert sich auch in Andrea Büttners Videodokumentation über im Schausteller-Millieu engagierte Ordensfrauen, ergänzt von Holzschnitten, die abstrahierte Zelte darstellen – Behausung der Nichtsesshaften und Flüchtlinge.

Bodenständig
Mit diesem Sinnbild der Wanderung knüpft Büttner an den allgegenwärtigen Topos der Migration an, wie es auch Sopheap Pichs Materialsymbolik gelingt Nach zwanzig Jahren künstlerischer Sozialisation in den USA nach Korea zurückgekehrt, gehört Pich zu den TeilnehmerInnen, deren Vokabular verschiedene Kulturkreise reflektiert. Nach seiner Re-Migration gestaltet Pich das Raster- eine international durchgesetzte Figur westlicher Minimal Art - mit für Korea charakteristischen Materialien.
Die Erfindung des Tafelbildes markierte einst den Übergang vom religiös motivierten Handwerk zur Kunst. Die an den Flügelaltar gebundene Malerei wurde mobil und ließ sich verschiedenen Kontexten anpassen. Nun holt Pich die Standortgebundenheit zurück ins Tafelbild. Mit dem für lokale Eigenheiten sensibilisierten Blick des Rückkehrers fertigt er das universale Raster aus einheimischen Rohstoffen Bambus, Erden und Bienenwachs an.
Die sich aus diesen ortsgebundenen Elementen ergebende Abstraktion Koreas stellt die so materielle wie spezielle Antwort auf Alighiero Boettis mit Nationalflaggen versehene Weltkarte dar - die zeichenhafte Abbildung eines Systems, dessen globale Dimension lediglich nationale, nicht aber regionale Eigenheiten erkennen lässt. Boettis Darstellung territorialer Verteilung durch die Grafik von Flaggen verdeutlicht die Machtverteilung zur Zeit, da die Verteilung von Gut und Böse noch in den klaren Grenzen von Ost und West verlief.

Boetti | Mappa


Verglichen mit Pichs Erdung der universell transportablen Währung Bild schlägt Doreen Reid Nakamarra die umgekehrte Richtung ein. Um den Verkauf zu ermöglichen, überträgt sie ihre, nach der Tradition der Aborigines auf dem Boden ausgeführten Arbeiten auf Leinwand und speist so die einstige Bodenzeichnung in den globalen Kunsthandel ein.
Diese Verwandlung von Erde zu Geld gehört zu den Werken, die das Verhältnis abstrakter und konkreter Werte thematisieren – allen voran die wirtschaftliche Ab- und Aufwertung der Elemente Erde, (Amar Kanwar), Wasser (Maria Thereza Alves) Luft (Amy Balkin) und menschlicher Arbeitskraft (Time/Bank).

Ja, aber. Was ist denn nun daran politisch?
Die interdisziplinäre Ausrichtung der dOCUMENTA (13) deutet darauf hin, dass ein Grund für das Scheitern politischer Programme im Outsourcing einzelner Segmente aus dem politischen Aktionsradius liegt. Statt die Anliegen wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Bereiche rechtzeitig im politischen Zusammenhang zu thematisieren, werden die Sprengkraft bergenden Felder aus dem politischen Geschehen ausgelagert.
Kunst hingegen reduziert ihre gesellschaftliche Relevanz durch ein ähnliches Outsourcing von 'allem Anderen'. Selbstverständlich ist die damit verkürzt beschriebene Arbeitsteilung der zunehmenden Betonung von Synergieeffekten gewichen, und die Suche nach Schnittstellen zur Voraussetzung effizienten Networkings geworden. Doch solang wohlmeinende Absichtserklärungen und Beteuerungen einer grundsätzlichen Verbundenheit allen Seins keinerlei Bedrohung darstellen für Wettbewerb und Lagerdenken innerhalb der Disziplinen, kommt der programmatischen Überschreitung von Gattungsgrenzen zukunftsweisende Bedeutung zu. Zudem demonstriert das Hervorheben künstlerischer Aspekte in außerkünstlerischen Bereichen die Unmöglichkeit, Kunst herauszulösen aus dem, was Reinhardt 'alles Andere' nannte.
Die Anwendung künstlerischer Mittel zu 'anderen' Zwecken verweist auf den Unterschied zwischen Funktionalisierung und Instrumentalisierung. Während ersteres die Anwendung spezifischer Methoden zugunsten übergeordneter Ziele bedeutet, steht Instrumentalisierung für die Zurichtung solcher Methoden im Dienste fremder Anliegen.
Angesichts dieser Optionen des selbst- und fremdbestimmtem Engagements tendiert die dOCUMENTA (13) zur Funktionalisierung, d.h. zur Anwendung künstlerischer Strategien im Interesse sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele.
Das Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Altersgruppen und Kunstgeschichten verschiedener Zeiten und Räume lässt die Hierarchien des Kunstbetriebs anachronistisch scheinen. Auch die Integration verschiedener Wahrnehmungsformen hat Modellcharakter, da Lösungen für wirtschaftliche und ökologische Probleme eine Erweiterung der auf Menschen zentrierten Sicht erfordern.
All diese Prinzipien – Interdisziplinarität, Einsatz künstlerischer Praktiken zugunsten nicht-künstlerischer Ziele, sowie Dezentralisierung – treten im Rahmen der Ausstellung und der sie begleitenden Veranstaltungen vielfältig in Erscheinung. Indem sie die vielzitierten Möglichkeitsräume auf genuin künstlerische Weise inszeniert, tut Kunst ihr Bestes für 'alles andere'.

1) http://de.wikipedia.org/wiki/Korbinian_Aigner

Charlotte Lindenberg

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