Freitag, 10. Juni 2011

Eberhard!

Ich bin ja sehr tolerant. Und grundsätzlich historisch interessiert. Wenn mich also jemand fragt, ob ich mitkäme in den Kunstverein einer mittelgroßen Gemeinde und mir die Besichtigung der Ausstellung eines neunzigjährigen Malers in Aussicht stellt, sag ich natürlich gequält aber aufgeschlossen „kann's kaum erwarten“ - oder sowas in der Richtung. Meister der Moderne muss man sich schließlich unermüdlich draufschaffen, weil wie wir wissen, ist besagte Moderne ja unsere Antike und so.

Dass mir der Name Eberhard Schlotter noch nie begegnet ist, obwohl eingedenk unserer ansehnlichen Lebensspannen eigentlich Zeit genug gewesen wäre, bremst meinen Enthusiasmus zusätzlich. Dann aber erinnere ich mich an meine inbrünstig demokratische Lasst-mal-die-Kleinen-nach-vorn-Mentalität, und an meine Schimpftiraden hinsichtlich der immergleichen Hypes der üblichen Verdächtigen. Also halte ich mir einen pädagogisch wertvollen Vortrag, um mich von der These zu überzeugen, dass die Tatsache, dass ein Maler offensichtlich neunzig Jahre lang in der Pre-Emerging-Schleife verbracht hat, nur seine konsequente Mainstream-Inkompatibilität beweist, und hier aufrechter Widerstand gegen zeitgenössischen Anpassungsdruck zu erwarten ist.

Auf dem Weg zum Tatort weiß ich genau, welche Art von Malerei die nächste halbe Stunde meine geballte Selbstdisziplin (= Verdrängung hartnäckiger Fluchtimpulse) fordern würde. Wenn er 1921 geboren wurde, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach in den 1950er Jahren zu Hochform aufgelaufen und hat demnach sein kreatives Potential in die unausweichlich informelle Malerei jener Epoche investiert. Gegen die hab ich auch gar nichts. Und gerade deswegen inzwischen dann doch häufig genug gesehen. Abbildungen in einer Zeitung bestätigen mein sorgfältig differenziertes Vorschussurteil: „Ach, so einer.“
Na denn: Auf zur Vollstreckung des Bildungsauftrags.

Beim Betreten der Halle erleide ich einen Anfall akuter Maulsperre: Der Unterkiefer sackt und lässt mich eine Weile intelligenzfrei an die Wände starren. Der Wow-Faktor hat zugeschlagen.

Eberhard Schlotter, Das alte Lied.

Trotz aller Vielfalt lässt das Panorama aus abstrakten und veristischen - d.h. ins Groteske übersteigerten figurativen - Gemälden eine eigenartige Übereinstimmung erkennen:
Noch die scheinbar ungegenständlichsten Arbeiten erweisen sich als in Farbe und Form reduzierte Darstellungen wiedererkennbarer Motive: Architektur in Landschaft, Gebäudeteile, Licht und Schatten auf Mauerwerk und Holz. Der Verzicht auf Einzelheiten aber bedeutet keine wirkliche Reduktion, sondern bietet Raum für einen erstaunlichen Detailreichtum der Struktur einer Oberfläche, die keine ist. Aus einer Mischung von Sand, Gips und Farbe (oder so) entstehen Reliefs, die den Blick vollständig vom Inhalt („Leeres Kaufhaus“, „Das große Wäscheproblem“ etc.) auf die Form lenken. Das Auge kriecht in Furchen und stolpert über die Leinwand verkrustende Plateaus, deren Fülle erdfarbiger Nuancen einem denkbar unbunten Spektrum entstammt. Schlotters Palette beschränkt sich so konsequent auf Farbfamilien, wie sie allenfalls oberhalb der Vegetationsgrenze oder 40° Celsius in der Wüste vorkommen, dass es nicht überrascht, dass der Maler seit 1960 einen zweiten Wohnsitz im spanischen Alicante unterhält.

Eberhard Schlotter, Herein ohne anzuklopfen II.

Die Personendarstellungen aus den 1950er bis 70er Jahren hingegen sind bunter, aber nicht farbenfroh, denn Dunkles dominiert – in jeder Hinsicht. Auch hier lenkt das weggelassene Beiwerk die Aufmerksamkeit auf die psychogrammartigen Porträts. Nahezu alle Gesichter erinnern auf ihre Weise an Masken: das bizarre Makeup Jugendlicher Mitte der 80er Jahre, der bevorstehende Tod im aufgelösten Gesicht eines Heroinabhängigen, das subtile Sabbern des angetrunkenen Lustmolchs im Frack. Eine allgegenwärtige physiognomische Asymmetrie lässt auf die zwei Seelen, ach, der ProtagonistInnen schließen. Gesichts- und Körperhälften sind selten synchron: ein Auge ist müde, das andere lüstern, ein Mundwinkel hebt, der andere senkt sich.

Eberhard Schlotter, Die Frau des Metzgers.

Szenarios ohne Personen hingegen wirken symbolisch, dabei aber polyvalent – eher Pittura Metafisica als bedeutungsschwangere Redseligkeit. Zurückgelassene Gegenstände und leere Interieurs erzählen von etwas, das wir nie erfahren werden. Angesichts der Verteilung von lesbaren Details und freien – nicht leeren – Flächen drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass es dem Maler weniger um den rekonstruierbaren Plot ging als darum, das Geplauder der Einzelheiten räumlich einzudämmen und den größten Teil der Leinwand dem freien Spiel von Farbe und Schatten zu widmen.

Eberhard Schlotter, Llomboy 12

Fazit: Normalerweise bin ich nicht so freigiebig mit Beifallsstürmen, aber diese Ausstellung ist faszinierend. Dabei hab ich die ganze Druckgrafik noch gar nicht erwähnt. Und das ist gut so, denn ein Blog ist kein Katalog und Schlotter muss man offline sehen. Fahrt nach Darmstadt!

Eberhard Schlotter „unterm Strich“ bis 28.8.11 in der Kunsthalle Darmstadt.

Charlotte Lindenberg

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