Donnerstag, 14. Juli 2011

Essen und Gegessen Werden

Das Verfahren hat sich bewährt: Man nehme einen ortsspezifischen Ort und rufe Kunstschaffende zur Einreichung ortspezifischer Werke auf. Dem Ort tut das gut, weil er in der Regel nicht gerade im Brennpunkt öffentlichen Interesses steht. Vielmehr gilt häufig das Prinzip „bring in the Clowns.“ Mit andern Worten: Wenn die Abrissbirne bereits Anlauf nimmt, holt die Künstler! So kommt man nochmal in die Zeitung und wird vieler schöner Synergieeffekte teilhaftig.

Den KünstlerInnen tut das auch gut, weil die Aufforderung zur Reaktion auf ungewohnte Gegebenheiten entweder zur Erweiterung des eigenen Aktionsradius verleitet, oder aber Gelegenheit bietet, bestehende Arbeiten umzuetikettieren – will sagen: „einer Revision zu unterziehen“.

Entgegen dieser fahrlässigen Verallgemeinerung findet die neunte Ausgabe der Ausstellung „Vogelfrei“ in keiner zum Abschuss freigegebenen Asbestfabrik statt, sondern in einem Schloss und dessen Park. Letzterer ist traumhaft schön, Ersteres, was ortspezifische Orte nun mal sein müssen: eine Herausforderung. Gebildete BesucherInnen schätzen es als fürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jh., weniger gebildete Gutmenschen als Beinhaus, das über die gewöhnungsbedürftige Freizeitgestaltung dekadenter Feudalherren Aufschluss gibt.

Wo nämlich Fachleute Zeugnisse waidmännischer Großtaten erblicken, sieht das unbewaffnete Auge Gemächer voll Leichenteile. Dabei müssen Jagdtrophäen gar nicht derart bizarre Formen annehmen, um an die Opferriten zu erinnern, in deren Verlauf Tiere mit viel Erfindungsgeist nieder gemetzelt wurden.

Hinter jedem Geweih verbergen sich Hetzjagd und Todeskampf – Tatsachen, denen Werner Henkels Installation die Anschaulichkeit zurückgibt, welche die heroischen Ziegen an der Wand vermissen lassen.


Einige der 20 TeilnehmerInnen hat die von Kuratorin Ute Ritschel ausgegebene Losung „Jäger und Sammler“ auf die genialen Vorrichtungen aufmerksam gemacht, die den Herren zu Kranichstein das sportliche Massaker erleichterten – sogenannte Jagdschirme z.B, die den Schützen ungestörtes Zielen außerhalb des Einzugsgebiets ungehaltener Wildschweine erlaubten.


Die in diese Barrikaden eingelassenen Schießscharten bildet Anjali Göbel aus geflochtenem Holz nach, suggeriert aber durch deren Anordnung eine zeitgenössische Variante der einstigen Treibjagd. Schließlich erinnern die in alle Richtungen weisenden Trichter an primitive Lautsprecher, wie sie noch heute zwecks Verbreitung öffentlicher Botschaften zur Anwendung kommen (egal ob politische Agitation oder auch nur „57, bitte an die 10“).
Auch das für Jagdhunde damals gebräuchliche Stachelhalsband, das diese ebenfalls vor unerwünschter Annäherung seitens besagter Wildschweine schützte, empfindet die Künstlerin auf vieldeutige Weise nach.


Apropos vieldeutig: Eine gewisse Bedeutungsoffenheit kennzeichnet etliche Arbeiten, die eine differenzierte Haltung der KünstlerInnen gegenüber dem Phänomen des Jagens von Tieren erkennen lassen. So sind sich viele der Bedeutung der Jagd als Kulturtechnik bewusst – und damit umso deutlicher der Diskrepanz zwischen der Jagd als Kampf ums Überleben auf Augenhöhe, und ihrer Perversion, bei dem eingepferchtes Wild vom Balkon aus erlegt wurde.

Einen scheinbar spaßigen Kommentar bilden die Relikte einer Performance von Claudia Kappenberg und Dorothea Seror. Denn erst auf den zweiten Blick erweisen sich die kindchenschematisch wirkungsvollen Figuren als buchstäblicher Friedhof der Kuscheltiere, handelt es sich doch ebenfalls um ... Jagdtrophäen – um es mal vorsichtig auszudrücken. Tatsächlich verdankt sich ihre kopflastige Körperlosigkeit einer Veranstaltung am Eröffnungswochenende, in deren Verlauf die Künstlerinnen das Publikum aufforderten, aus dem von ihnen mitgebrachten „Viehbestand“ jeweils ein Opfer auszuwählen, das darauf hin „geschlachtet“ und „zubereitet“ wurde. Die Ergebnisse dieser in Gastronomie und so mancher Religion gängigen Prozedur finden sich über das gesamte Anwesen verteilt.



Eine wohltuend unseriöse Variante der Schädelstätte hingegen installierte Henkel inmitten der Totenkopf-Galerie.



So präzise die erste Hälfte des Ausstellungsthemas, so vage die zweite: das Sammeln. Die semantische Unschärfe des dehnbaren Begriffs erleichterte den TeilnehmerInnen die Auswahl geeigneter Arbeiten keineswegs, weil irgendwie halt irgendwie alles irgendwie irgendwas mit Sammeln zu tun hat.

KollegInnen vergangener Jahrhunderte hätte sich eine solche Behauptung verbäten: Die sammelten nicht – die schufen. Heutzutage aber ist Sammeln die Grundlage von 80 % der künstlerischen Praktiken. Found Footage auf allen Ebenen – ob statische oder bewegte Bilder, geschriebene oder gesprochene Texte, einzigartige Kleinodien oder Klimbim aus der Is-das-Kunst-oder-kann's-weg?-Kategorie – das Prinzip Collage unterliegt der Kunst 21.
Umso bemerkenswerter, dass kaum jemand angesichts dieser nichts und alles sagenden Arbeitsanweisung ins Archiv griff. Waltraud Munz etwa reichert die ortsansässige Pilzansammlung mit Blech-Pilzen an. Waltraud Frese versammelt Rindenstücke auf menschlichen Torsos – eine Reminiszenz an Daphne und die viel zitierte Verwandtschaft von Mensch und Baum.



Helina Hukkataival lädt zum Mineral-Orakel, indem sie von BesucherInnen mitgebrachte Lieblingssteine mit Grafit auf Papier frottiert und die BesitzerInnen die Zeichnung nach Art des Bleigießens interpretieren lässt. Wem sich hierbei der Zusammenhang zum Stichwort Sammeln nicht auf Anhieb erschließt, sei getrost: Mir auch nicht. Aber das ist ja das Interaktive an Themen-Ausstellungen. Denn wo der Bezug zwischen aktuellem Thema und bewährtem Vorgehen nicht sofort ersichtlich ist, ist die Kreativität der BetrachterInnen gefordert, sie herbei zu fantasieren.

Bis 2. Oktober kann man sich persönlich davon überzeugen, wie unverzeihlich es von mir ist, ausgerechnet die 13 hier nicht erwähnten KünstlerInnen nicht zu erwähnen.

Jäger und Sammler - Vogelfrei 9
im Jagdschloss Kranichstein

Charlotte Lindenberg

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